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Wiener Staatsoper

Mit der ihr auf den Leib geschriebenen Titelpartie in Donizettis Anna Bolena gastierte die große Tragödin Giuditta Pasta europaweit in Mailand und London, in Paris, Berlin und St. Petersburg. Seit der Wiederentdeckung dieses Meisterwerks, das Donizetti seinerzeit zum Durchbruch verhalf, haben sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die bedeutendsten Prima- donnen erfolgreich dieser Partie angenommen: Von Maria Callas über Joan Sutherland, Renata Scotto, Leyla Gencer, Beverly Sills bis hin zu Edita Gruberova und Anna Netrebko. Nun ist es Diana Damrau, die die Aufführungsgeschichte dieses Belcanto-Juwels um ein wichtiges Kapitel fortschreibt. Nach einer Anna Bolena-Serie in Zürich und knapp vor Probenbeginn für die Aufführungen an der Wiener Staatsoper gab die seit ihrem hiesigen Debüt auch in Wien gefeierte Sopranistin das folgende Interview.

Gaetano Donizetti widmete gleich drei englischen Königinnen eine Oper – Anne Boleyn, Maria Stuart und Elizabeth I. in Roberto Devereux. Es ist schon bemerkenswert, wie Donizetti diese in vielem sehr unterschiedlichen, aber in ihrem Machthunger dann doch wieder ähnlichen Per- sönlichkeiten musikalisch porträtiert hat.

Diana Damrau: Daher wird sich wohl auch niemand darüber wundern, dass ich tatsächlich den Plan gefasst habe, alle drei Rollen auf der Bühne zu verkörpern. Schließlich handelt es sich sowohl vom Gesanglichen wie vom Schauspielerischen her um unglaublich spannende Charaktere in extrem dramatischen Situationen. Stets geht es um Leben und Tod, um vermeintliche und enttäuschte Liebe, um blutige Rivalität, um ausweglose Situationen, in denen sich die drei Frauen kaum auf jemanden verlassen können. Am Ende werden zwei von ihnen exekutiert und die Dritte zerbricht an einer von ihr angeordneten Hinrichtung. Entgegen der Chronologie ihrer Entstehung begann ich meine Königinnen-Reise ins Reich des dramatischeren Belcanto mit der zweiten, mit Maria Stuarda. Sie liegt von der Tessitura etwas höher und ist insgesamt luftiger geschrieben als die beiden anderen. In der nun dazugekommenen Anna Bolena – übrigens die längste der drei Rollen – ist schon deutlich mehr Erde drinnen. Die Elisabetta ist, zu guter Letzt, die mit Abstand dramatischste, aber auch kürzeste Partie, die traditionell eher als Altersrolle eingestuft wird. Sie ist ja wahrlich keine sehr schöne, knusprige Königin mehr, auf die ein nach ihr schmachtender Geliebter wartet. (lacht) Aber auch hinsichtlich der Anforderungen an Stimme und Körper ist es besser, wenn ich mir mit diesem abgründigen Charakter noch Zeit lasse. Andererseits ist man in der Schlussszene von Roberto Devereux noch mehr dazu verleitet, das Bühnenpferd ohne Scheuklappen losga- loppieren zu lassen!

Die Schlussszenen in diesen drei Opern haben es ja alle wahrlich in sich!

Diana Damrau: Und wie! Da hat die Sängerin die Bühne für sich allein und darf endlich die ganze Sache nahezu vollkommen alleine tragen! (lacht) In der jeweils ersten Arie am Beginn dieser Opern, da geht es noch ums reine Singen, aber hier in den gewaltigen Final-Arien sind wir eigentlich schon mittendrin im echten Musiktheater. Donizetti hat alle Facetten seiner Meisterschaft spielen lassen und zugleich die Form komplett der Dramatik untergeordnet. Als vollendeter Praktiker achtete er zudem penibel darauf, diese Marathons so stimm- und kräfteschonend wie nur möglich zu gestalten, damit der Interpretin nichts im Wege steht, bis zum Schluss eine Steigerung aufzubauen. Einem langsamen Teil folgt Rezitativisches, Abschnitte des Chores bilden kleine Ruhepole, bevor es zur großen Stretta geht… beziehungsweise zum Schafott.

Vom Schafott abgesehen sind diese Schlussszenen ja Schwestern der großen Wahnsinnsarien von Elvira, Amina, Lucia & Co.

Diana Damrau: Natürlich. Sie sind allesamt so geschrieben, dass man wunderbar stimmlich Farbmalerei betreiben kann und dadurch eindrucksvolle Atmosphären schildert. Manchmal ist der Wahnsinn pathologischer Art, wie in Lucia di Lammermoor – was auch durch den irrealen Klang der begleitenden Glasharmonika schön zum Ausdruck kommt. Manchmal, wie bei Anna Bolena, handelt es sich hingegen um eher kürzere Standby-Momente, in denen die Betroffene gewissermaßen in ein psychisches Vakuum fällt, wo sie von heraufgespülten Erinnerungen umgeben ist, ehe sie wieder in die furchtbare Realität zurückkehrt.

Gerade in der Ausgestaltung der großen Arien hat die Sängerin gewisse Freiheiten, was Ausziehrun- gen, Kadenzen, Tongebung betrifft. Nehmen Sie da auch die bekannten Ricci-Alben zu Hilfe, in denen diesbezüglich sehr viel angeboten wird?

Diana Damrau: Bevor man an die Gestaltung geht, muss einem klar sein, dass sich Belcantosingen nicht auf hohe oder schnelle Töne reduziert, die natür- lich virtuos dargebracht werden sollten, son- dern aus dem Phrasieren entsteht und aus all den Farben erwacht, die man zwischen den Zeilen herausliest, die das Geschehen tragen und zum Leben erwecken. Und so versuche ich, jedem Augenblick der Partitur das zu geben, was ich emotional zu erkennen meine. Und dann stellen sich Fragen, wie: Wird dieser hohe Ton durch das, was ich ausdrücken will, beglaubigt, oder widerspricht er meinen interpretatorischen Intentionen? Was bezwecke ich mit diesem Messa di Voce, mit diesem Triller? Kurzum: Ich studiere die Noten, die Überliefe- rungen, ja, auch die Ricci-Alben, höre mir an, was andere Sängerinnen an dieser oder jener Stelle angeboten haben, übernehme bzw. ver- ändere manches und lege mir anderes selbst ganz neu zurecht.

Haben Sie als Kind auch Belcanto-Opern angehört?

Diana Damrau: Nein, dieses Genre entdeckte ich eigentlich erst im Studium für mich. Es ging los mit den Lucias, die ja weltweit recht häufig zu sehen sind, später kamen gezielt auch die anderen Werke von Rossini, Bellini und Donizetti dazu. Allein Roberto Devereux mit unserer lieben Edita Gruberova habe ich in Wien und München sicher ein Dutzend Mal angesehen. Aber als Kind standen auf meinem Opernspeiseplan zunächst Stücke wie Carmen oder Turandot.

Sehr viel Tragisches! An der Wiener Staatsoper konnte man sie aber auch – leider nur zwei Mal – zum Beispiel als herzerfrischende Rosina in Rossinis Barbiere erleben.

Diana Damrau: Ja, die Rosina würde mir nach wie vor großen Spaß machen! Ich gebe zu, dass mir die komischen Rollen derzeit etwas abgehen. Aber das wird sich ändern. In der Corona-Zeit hat man viel Muße zum Nachdenken, zum Planen, zum Hoffen. Ich bin in mich gegangen und habe mir die Frage gestellt, wo denn meine Herzensprojekte liegen. Und die Antwort ist: Neben den wunderbar tragischen Rollen wie einer Anna Bolena benötige ich auch die Komödie, das gehört einfach ebenfalls zu mir!

In näherer Zukunft ist ja beispielsweise Strauss’ Capriccio u.a. in München geplant, das ist durch- aus etwas Komödiantisches.

Diana Damrau: Ein wunderbares Konversationsstück, bei dem Ironie und eine schier unendliche Palette an Zwischentönen notwendig sind. Da muss man beim Studieren der Partie sowie gemeinsam mit den Kollegen auf den Proben jedes Wort auf die Goldwaage legen! Natürlich hat die von mir verkörperte Gräfin die Contenance zu wah- ren und kann nicht wie ein Kasperl über die Bühne rauschen, aber sie kann mit geschlif- fenem Wort und spitzer Zunge durchaus ihre Pointen setzen. Ich freue mich sehr darauf. Nicht umsonst ist Strauss neben Mozart und Donizetti mein dritter erklärter Favorit.

Das Publikum eines Opernhauses ist vielgestaltig und die Geschmäcker natürlich verschieden. Mir ist aber aufgefallen, dass unter den sogenannten Wagnerianern sehr viele auch zu den passionier- ten Belcanto-Liebhabern gehören.

Diana Damrau: Das ist gar nicht so verwunderlich. Eine Belcanto-Oper ist genau genommen ein echtes Wunschkonzert, in dem eine schöne Melodie die nächste jagt, man kann sich regelrecht in die Musik fallen lassen. Ähnlich, wenn auch in ganz anderer Form, bekommen wir bei Wagner die langen Phrasen und unendlichen Melodien zu hören, nur halt weniger kompakt als in den Werken von Bellini oder Donizetti. Die Opern von Richard Strauss zum Beispiel unterscheiden sich viel deutlicher vom Belcanto, da passiert manchmal auf jeder Note eine harmonische oder instrumentationstechnische Veränderung, da kommt die vielgestaltige Ebene des Wortes hinzu. Was jetzt nicht heißt, dass Belcanto-Liebhaber nicht auch gern Strauss hören oder dass bei Wagner harmonisch wenig los wäre. (lacht)

Kommen wir zur Anna Bolena zurück: Als Zuschauer hat man automatisch Mitleid mit dieser Figur. Aber im Grunde ist sie als Person vielschichtig, nicht nur sympathisch. Schlussendlich hat sie für den Thron auf ihre wahre Liebe zu Riccardo Percy verzichtet. Ist dieser Charakterzug nur etwas für den Hinterkopf oder sollte er zu erkennen sein.

Diana Damrau: Das muss man spielen, keine Frage! Klar, man kann sie von Anfang an als Leidende, In-sich-Gekehrte, als rein tragische Person geben. Aber die Musik erzählt viel mehr, sie schildert eine vieldimensionale, intelligente Frau, die das Gegenüber taxiert, zu ergründen sucht, in sich geht, die eine sehr abwechslungsreiche Vergangenheit besitzt. Vor der Gerichtsszene sagt sie ihrem Mann zum Beispiel auf den Kopf hin, dass sie ihn und seinen Plan durchschaut hat und weiß, auf welche Weise er die Fäden zieht. Und auch die große Enttäuschung, die sie im Duett mit ihrer Hofdame und geheimen Rivalin Giovanna Seymour erleidet, als diese ihren Verrat gesteht, kann man durch ein vorange- hendes feines Misstrauen einleiten, das Annas Feinfühligkeit dokumentiert. Die historische Anne Boleyn war ein sehr schillernder Charakter, ein Paradiesvogel, der sich von der Familie und vom Ehrgeiz getrieben am französischen Hof all das angeeignet hat, was sie später in England zu ihrem eigenen Nutzen einsetzen konnte. Da war viel Eitelkeit im Spiel, und sie war sicherlich im Manipulieren des Gegenübers ähnlich begabt wie Heinrich VIII. – nur saß dieser am längeren Hebel. Donizettis Anna Bolena setzt diese Vergangenheit ja voraus – unter anderem angedeutet in der erzählten strategischen Abwendung vom eigentlich geliebten Mann. In dieser Rolle steckt ein psychischer Schwebezustand, den die Interpretin – unterstützt vom Regisseur – auskosten sollte.

Apropos Interpretin: Auf Sie trifft das mittlerweile inflationär gebrauchte Wort Singschauspielerin tatsächlich zu: Sie erfassen und durchleben die von Ihnen gestalteten Partien vokal wie schau- spielerisch gleichermaßen.

Diana Damrau: Wir hatten in Würzburg eine sehr gute Schau- spielausbildung, da konnte ich das Handwerk lernen. Aber auch auf diesem Gebiet muss ich ständig weiterarbeiten, mich immer neu auf eine Situation, einen Charakter einstellen, ge- nau auf die Musik hören und aus ihr Subtexte ableiten. Mit jeder neuen Produktion, mit je- dem neuen Regisseur werden diese dann hin- terfragt, erweitert, zur Seite geschoben und durch neue ersetzt. Mich freut es sehr, eine Rolle auch in einem mir ungewohnten Licht kennenzulernen, im Zusammenspiel mit den Kolleginnen und Kollegen zu verfeinern. Das alles ist fruchtbarer Humus für die gesamte Gestaltung, da gehen Gesang und Schauspiel Hand in Hand.

Wir sprachen vorhin von der Schlussszene und vom Duett mit Giovanna Seymour: Gibt es für Sie so etwas wie eine Lieblingsstelle in Anna Bolena?

Diana Damrau: Das ist schwierig, weil ich das Werk insgesamt so schätze… Vielleicht die wunderbaren Ensembles, wenn alles ruhiger wird. Oder das Trio vor der Gerichtsszene, in dem sie realisiert, wie sehr sie von Riccardo Percy geliebt wird, wie er um sie kämpft und was sie an ihm verloren hat: Das ist ein so unglaublich tiefer Moment, da hört man aus der Musik ihr Be- reuen und die Tränen heraus, die sie weint. So wie bei ihrem Gebet in der letzten Szene – vergleichbar übrigens mit dem Gebet Maria Stuardas – in der ihr Gottesvertrauen plötzlich durchbricht. Nein, wirklich, es ist schwer, nur eine Lieblingsstelle zu benennen.

Anna Bolena gilt ja als wichtiges Beispiel der romantischen italienischen Oper.

Diana Damrau: Dieses Romantische zeigt sich unter anderem darin, dass die Akteure das Herz auf der Zunge tragen, die Gefühle alles zu steuern scheinen. Der wohl romantischste Charakter der Oper ist in Wahrheit gar nicht Anna Bolena, sondern Riccardo Percy. Er vergisst tatsächlich alles Drumherum – ein bisschen wie ein Vorfahre von Werther – er verzeiht und liebt trotz allem, was ihm angetan wurde. Typisch romantisch ist außerdem die besondere Rolle der Natur als Spiegelbild der Seele. Nicht umsonst wünscht sich Anna Bolena am Schluss durch ihr Weg- treten aus der Realität zurück ins Schloss ihrer Kindheit. Die Bäume, der ruhig dahinziehende Fluss, von dem sie spricht, alles steht im ab- soluten Gegensatz zu den Stürmen in ihrem Inneren. Sie versenkt sich sozusagen in den Frieden, in die Schönheit, ins Licht. Und das wird Klang.