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Süddeutsche Zeitung

Strauss-Schwerpunkt bei den Opern-Festspielen: David Marton inszeniert im Prinzregententheater „Capriccio“, das letzte Werk des Komponisten, als vielschichtiges Rätselwerk.

Foto: Winfried Hösl

Von Klaus Kalchschmid

Im Libretto der letzten Oper von Richard Strauss heißt es zu Ort und Zeit der Handlung präzise: „Ein Schloss in der Nähe von Paris zur Zeit, als Gluck dort sein Reformwerk der Oper begann. Etwa um 1775.“ Seine Bewohner sind die Gräfin und ihr Bruder, der wenig kunstsinnige Graf, ein Musiker und ein Dichter, ein pragmatischer Theaterdirektor, eine Schauspielerin, ein Souffleur, eine italienische Sängerin samt Tenor, eine Tänzerin, der Haushofmeister und mehrere Diener.

Gefragt nach einer Inhaltsangabe in ein paar Sätzen, antwortet die Dramaturgin der Produktion, Katja Leclerc, mit sieben Fragen: „Wort oder Ton? Wen soll ich lieben? Tenor oder Bariton? Was ist wichtig für mein Leben? Was macht uns glücklich? Wo finde ich Zuflucht? Wie kann man Kunst machen in finsteren Zeiten?“ Ursprünglich geplant als Einleitung zu „Daphne“, vergleichbar dem Vorspiel zur „Ariadne“-Oper, entwickelt der Entwurf von Stefan Zweig, den Joseph Gregor, Librettist der „Daphne“ 1937, weiterführt und schließlich vom Dirigenten Clemens Krauss vollendet wird, ein schillerndes Eigenleben: Der Titel „Capriccio“, zu Deutsch „Laune“, bezeichnet schon das Kapriziöse des Ganzen. Obwohl Strauss ein großes romantisches Orchester fordert, steht veritable Kammermusik, ein instrumentales „Sextett im Orchester“, als Ouvertüre am Anfang. Ihm steht später ein gesprochenes Sonett entgegen. Beides zusammen ist die Verkörperung des Gegensatzes von Text und Musik, Wort und Ton, Dichter und Komponist, Liebhaber I (ein Bariton in Gestalt von Vito Priante) der Gräfin und Liebhaber II (ein Tenor alias Pavol Breslik), das den Kern des Geschehens bildet.

Am Ende wünscht sich Frau Gräfin (Diana Damrau) eine Oper, um ihre beiden potenziellen Liebhaber, zwischen denen sie sich nicht entscheiden kann, gemeinschaftlich dafür verantwortlich zu machen und einen Ausgleich von Text und Musik zu erreichen. Dazu bestellt sie beide zur gleichen Zeit in die Bibliothek, während sie längst abgereist ist. Vorhang zu und alle Fragen offen! „Capriccio“ ist nach dem vielzitierten Bonmot des Komponisten ein „Leckerbissen für culturelle Feinschmecker“. Katja Leclerc erzählt, dass es im Stück um Widersprüchliches geht, etwa um einen Komponisten wie Richard Strauss, „der Kunst auch macht, um viel Geld zu verdienen“, aber auch um ein „tiefes Sich-Selbst-Befragen“, das eine wichtige Legitimation des Stücks sei. Es gehe einerseits um Eskapismus, aber auch darum, ein Refugium der Kunst und Menschen zu zeigen, die auf der Suche sind und die sich – wie Strauss – im Leben in der Kunst verstecken und dort Sicherheit suchen: „Man spürt bei allen Figuren, dass sie über mehr sprechen wollen, als sie sich trauen. Und sich mehr oder minder unausgesprochen die Frage stellen: ‚Hab‘ ich mein Leben lang etwa für die falsche Kunst gelebt, mich da in etwas verrannt?‘ Das ganze Stück ist eine bittersüße Angelegenheit. Man kann sich nie einfach zurücklehnen und nur genießen.“

Die Bühne zeigt wie schon in Lyon (2013) und für Brüssel (2016), wo es David Martons Inszenierung abgewandelt schon zu sehen gab, einen seitlichen Querschnitt durch ein Theaterhaus. Wir sehen die Bühne, einen Zuschauerraum, Logen, den Orchestergraben. Der Abend „changiert zwischen öffentlichem Spiel und dem Geschehen in Räumen, wo der Einzelne vermeintlich er selbst ist. Und wann nutzt man vielleicht das Spiel auf einer Probe, um etwas Wahrhaftiges von sich selber zu zeigen?“ Unterschiedliche Ebenen einzuziehen und die Reflexion gleich mitzudenken, ist das Bestreben von Regisseur David Marton. So gibt es jetzt im „Capriccio“ den berühmten „Strauss-Paravent“ wie in vielen Opern des Komponisten. Dahinter kann man etwas verstecken, das sich aber möglicherweise offenbart, wenn er plötzlich umfällt. Der Souffleur Monsieur Tope, der in der Oper eigentlich erst ganz am Ende auftritt, notiert sich während des ganzen Abends Dinge. Und man weiß nie, warum genau und wofür das eventuell gebraucht wird. Das spiegelt nicht nur die Spitzel der Nazizeit, sondern auch unsere heutige Welt wider, in der so viel im Netz gespeichert und abrufbar ist, ohne dass wir wissen, von wem und wofür.

Auch wenn Richard Strauss seinen Schwanengesang „Konversationsstück für Musik in einem Aufzug“ nennt, gibt es eine Pause zwischen dem siebten und achten Bild. Dessen musikalisches Vorspiel wird zur Einleitung des zweiten Teils, denn es sei wichtig, so Leclerc, dass das Publikum mitten im Stück nach draußen ausgespuckt werde und das Gesehene reflektieren müsse, sich nicht in die schöne Musik flüchten könne. Mitten im Zweiten Weltkrieg, kurz vor der Deportation der ersten Juden nach Theresienstadt, fand 1942 die Uraufführung im Nationaltheater statt. Rudolf Hartmann adaptierte 1953 seine Regie für eine Aufführung am Gärtnerplatztheater, die kurz danach ins Prinzregententheater übernommen wurde. 1970 und 1988 gab es Inszenierungen im intimen spätbarocken Cuvilliés-Theater von 1751, das perfekt zur Handlungszeit der wenig später spielenden Oper passte. Die jüngste Münchner Inszenierung in der Regie von August Everding gab es 1998 mit dem Ensemble des Gärtnerplatztheaters im Prinzregententheater. Ebenfalls dort findet jetzt als traditionell zweite Opernfestspiel-Premiere die von „Capriccio“ statt.