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Abendzeitung München

Diana Damrau über Weihnachten, die Aufgabe der Kunst, das Blackfacing und gute Traditionen.

AZ: Frau Damrau, Ihr erstes Weihnachtsalbum enthält Titel der Barockzeit und Traditionelles wie „Leise rieselt der Schnee“. Haben diese Lieder eine besondere Kraft?

DIANA DAMRAU: Mein Wunsch war es, während der Pandemie ein Weihnachtsalbum aufzunehmen, um für mich selber Ruhe und Frieden zu bekommen und das auch weiterzugeben. Weihnachten ist die Zeit des Lichts, der Freude, der Besinnung und des Wunders. Ich brauchte ein Doppelalbum, denn es gibt einerseits die festliche Weihnacht mit geistlicher Musik, die die Verbindung zum Himmel herstellt. Weihnachten ist das Fest der Familie, der Hoffnung, des Friedens, des Gebens. Das alles spiegelt sich in den traditionellen Weihnachtsliedern.

„Ich bin Christin mit buddhistischem Einschlag“

Sind Sie religiös erzogen worden?

Ein bisschen schon, aber eigentlich frei. Bei mir hat sich das Religiöse weiterentwickelt. Ich bin heute frei praktizierende Christin mit buddhistischem Einschlag. Als Kind bin ich fast jeden Sonntag mit meiner Mutter in die Kirche gegangen und habe lauthals mitgesungen. Günzburg hat eine wunderschöne Kirche, ein Rokoko-Schmuckstück: Dominikus Zimmermanns Liebfrauenkirche.

Wie verlief Heiligabend in Ihrer Kindheit?

Zuhause spielte ich Langspielplatten ab, auf denen Kinder sangen und Gedichte vortrugen. Als dann endlich geläutet wurde, war im Wohnzimmer alles dunkel, das Jesuskind lag in der Krippe und die Geschenke unterm Baum. Meine Mutter ließ eine Schallplatte mit Kirchenglocken laufen – ganz laut. Danach sangen wir alle „Stille Nacht“ und wünschten uns ein frohes Fest. Diese Art von Weihnachten will ich beibehalten, damit man das Wunder spürt.

„Weihnachten ist das große Fest der Hoffnung“

Es ist eine uralte Frage: Wie ist es möglich, dass ein Gott, den das Christentum als liebend und gütig beschreibt, das Böse und das Leid zulässt?

Der Mensch hat von Anfang an immer gekämpft und auch Lösungswege gefunden. Die Erde kann paradiesisch sein, wenn wir gut mit ihr umgehen, aber der Mensch ist leider nicht so gestrickt. Das liegt nicht an Gott, sondern an uns allein. Deswegen sollen wir uns in dieser Zeit besinnen, Glauben, Licht und Liebe spenden. Weihnachten ist das große Fest der Hoffnung. Man muss nicht unzählige teure Dinge schenken, man sollte lieber sein Herz schenken und versuchen, mit seinem Geschenk wahre Freude auszulösen und für andere da zu sein. Dann können wir gestärkt handeln.

Muss man als Künstler der Welt positiv begegnen?

Nein, das muss man nicht. Manche Künstler haben das Bedürfnis, am Publikum ihre psychischen Schäden abzuarbeiten. Kunst ist nicht nur Schönheit, Kunst soll etwas im Menschen bewegen. Jeder von uns hat andere Orte in der Seele, die berührt werden können. Manchmal muss man halt ein bisschen schocken.

Ist Musik für das menschliche Miteinander unerlässlich?

Musik ist für den Menschen unerlässlich, aber auch fürs Miteinander. Selbst bei einem Fußballspiel singt man ja Lieder.

„Jeder Künstler ist ein Unikat“

Dürfen russische Künstler in Anbetracht des Angriffskrieges gegen die Ukraine in Deutschland auftreten?

Ich finde, man sollte die Kirche im Dorf lassen. Wir Künstler sind Menschen wie alle anderen. Auch darf man jetzt nicht die russische Kunst boykottieren; wir gehören doch alle zusammen! Wenn die Menschen doch endlich einmal aufhören würden zu raffen, zu gieren und böse zueinander zu sein! Wir sind doch alle miteinander verstrickt und brauchen einander, um die Zukunft für die Menschheit lebbar zu machen und Lösungen zu finden. Jetzt! Es gibt so wunderschöne russische Musik. Die Sprache ist unglaublich reich, und die russische Seele tief und schwer. Ich finde, es ist eine faszinierende Kultur. Ich rede jetzt nicht vom Politischen.

Sie singen auf den wichtigsten Bühnen der Welt – von Wien über München und Mailand bis nach Paris. Sind es oftmals glückliche Zufälle, die einen an die größten Häuser bringen?

Es gehört viel Glück dazu, aber auch Arbeit, ein dauerndes Sich-Beweisen. Man kann sich nicht auf den Lorbeeren ausruhen, denn beim nächsten Auftritt ist alles wieder bei Null. Aber Qualität setzt sich durch. Es ist der Künstler, seine Persönlichkeit, die Stimme. Wir sind Unikate. Wir können nicht jedem gefallen, aber wenn man sein Handwerk im Griff hat und das Publikum anspricht, geht es auch weiter. Ich habe an der Wiener Staatsoper Friedrich Cerhas‘ zeitgenössische Oper „Der Riese vom Steinfeld“ gesungen. Eine unglaubliche Aufgabe. Am Vorabend der Premiere bekam ich von meiner Agentin ein Fax: Ich solle am Burgtheater in Mozarts „Entführung aus dem Serail“ die Konstanze singen. Ich konnte es nicht fassen. Und bei der Uraufführung kam Ioan Holender auf mich zu: „Damrauchen, Sie werden jetzt auch an der Scala singen! Riccardo Muti war im Zuschauerraum.“ Den hatte er vielleicht reingesetzt. Er suchte jedenfalls einen Koloratursopran, und ich konnte mir die Rolle raussuchen. Und daraus wurde die Wiedereröffnung der Mailänder Scala unter Riccardo Muti mit Salieris „L’Europa riconosciuta“.

Am 8. Dezember singen Sie zu Ehren der diesjährigen Nobelpreisträger in Stockholm. Für Musik gibt es keinen solchen Preis. Wer hätte ihn verdient?

Mozart, Bach und Richard Strauss! Ihre Musik ist mit großer Liebe zum Menschen gemacht. Bachs Musik zum Beispiel ist für mich der direkte Zugang zum Himmel. Genial. Und Richard Strauss hat noch das Psychologische mit hineingebracht und spricht direkter zum Menschen. Musik ist ein wahnsinnig wichtiger Teil des Menschseins. In Stockholm werde ich etwas von Mozart singen, wie die Arien der Gräfin aus „Le nozze di Figaro“, wo es um Hoffnung und den Kampf um die Liebe geht. Der Mensch ist zum Kämpfen und Lernen geboren. Leider kommen immer wieder Probleme auf uns zu, die wir zu lösen haben.

„Man muss beim Singen das Fühlen lernen“

Musiker müssen außergewöhnliche Leistungen auf den Punkt liefern – und das vor großem Publikum. Brauchen Sie dafür mentale Stärke?

Singen wirkt am natürlichsten, wenn wir es schaffen, über den negativen Anrufen aus dem Unterbewusstsein zu stehen, unseren Ängsten und Belastungen. Aus einem traurigen Vogel kommt kein Pieps mehr. Egal, wie einem ums Herz ist – man muss sich zurücknehmen, auf die Bühne gehen und die Musik durch sich hindurchlassen. Damit die heilige Musik trägt und die Wirkung nicht verfehlt.

Sie sind streng mit sich selbst, was Ihre eigene Leistung betrifft. Wie äußert sich das?

Ich kann mir selbst gegenüber sehr ungeduldig sein. Wenn meine Stimme kratzt, sollte ich lieber nicht zwei Stunden üben. Die Stimme ist wie ein Pferd. Reitet man es, verbindet man sich mit ihm und fühlt es. Man ist elastisch und gibt nach. Man muss beim Singen das Fühlen lernen. Die Stimme ist ein Körperinstrument, und jeder Körper, jeder Mensch ist anders. Ich finde es unglaublich, dass man diese Töne aus sich herausholen kann. Als ich als Zwölfjährige den Film „La Traviata“ mit Teresa Stratas zum ersten Mal sah, begriff ich, was klassisches Singen bedeutet. Es heißt zurück zur Natur und Einfachheit.

Wie oft erleben Sie Konzerte, die zu 100 Prozent gelingen?

Ich glaube, das gibt es gar nicht. Das ist zum Teil natürlich subjektiv. In manchen Momenten hat man das Gefühl, es war himmlisch. Zum Beispiel, wenn man mit einem Partner auf der Bühne zu einer schauspielerischen und stimmlichen Symbiose kommt. Wie in der Oper „Roméo et Juliette“ von Gounod. Auch in einer Rolle wie der Marschallin im „Rosenkavalier“ ist man wirklich mit sich, der Musik und der Aussage eins. Sich in diese großen Momente hineinfallen zu lassen und das weitergeben zu dürfen, ist für mich etwas Perfektes.

„Es gibt Dinge, die man nicht wegwerfen sollte“

Wie denken Sie darüber, dass man das Black- oder Yellow-facing verbietet, dass man das Libretto von Werken wie „Turandot“, „Madame Butterfly“, „Aida“ oder „Otello“ zwar nicht verändert, aber beim Sprechen und Singen mehr auf die Betonung, auf Ironie oder Humor im Text achtet?

Ich denke, man sollte ein Kunstwerk auch so sehen dürfen, wie es ursprünglich kreiert wurde. Jetzt kann man natürlich eine andere Sicht bringen durch eine moderne Produktion, psychologisches, bebildertes oder entmenschlichtes Regietheater. Man sollte beides haben und dabei auch ein bisschen großzügig sein. Das ist doch spannend. Traditionen sind deswegen Traditionen, weil sie gut sind. Wir können es ausbauen, aber es gibt Dinge, die man nicht wegwerfen sollte. Vor allem nicht unsere Geschichte. Die Met macht jetzt eine neue Produktion der „Zauberflöte“, aber sie behalten die alte, wunderschöne, zauberhafte von Julie Taymor bei – als Kinder-„Zauberflöte“.

Die nachfolgenden Generationen sollten also auch wissen, was los war, im Guten wie im Schlechten?

Ja, immer. Das ist natürlich mit Arbeit verbunden, und man muss gucken, wie die Gesellschaft zu der Zeit war und wie sie sich zum Beispiel gekleidet und benommen hat. Das ist doch spannend! Wenn man nur noch Trenchcoats, Koffer und Sonnenbrillen auf der Bühne sieht … Nacktheit ist jetzt das große Wort. Entschuldigung!

Und das nervt Sie?

Ja, es nervt mich. Aber ich bin keine prüde Traditionalistin. Als Lulu im Schauspiel würde ich auch nackt über die Bühne rennen. Ich finde, beides sollte nebeneinanderstehen. Wir dürfen unsere Wurzeln nicht verleugnen, weil wir aus der Vergangenheit lernen können. Und jetzt sind wir wieder beim Thema Weihnachten: Das Einfachste ist das Größte. Wir brauchen gar nicht so viel. Weihnachten ist für Erwachsene oft sehr stressig, weil da viele Erwartungen aufeinanderprallen. Man versucht immer, es allen recht zu machen. Aber es ist ein Fest für unsere Kinder und das Kind in uns. Deswegen gibt es von mir jetzt den musikalischen Rundumschlag.