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Landbote

Kreative Tüftler, erfinderische Schafferinnen und stille Chrampfer: Rund 650 Menschen arbeiten hinter den Kulissen des Zürcher Opernhauses. Wir haben sie vier Wochen lang begleitet.

Im grossen Kronleuchter an der Saaldecke brennt kein Licht. Die goldenen Barockengel an den Logen sind in Dunkelheit gehüllt. Wie das Premierenpublikum. Es hat in Anzug und Abendkleid darin Platz genommen. Das Scheinwerferlicht geht an. Der Vorhang hebt sich, und die Gäste tauchen ein in die Oper «Anna Bolena» von Gaetano Donizetti, die an diesem Abend im Zürcher Opernhaus Premiere feiert. Gebannt folgen die Zuschauerinnen und Zuschauer den Geschehnissen auf der Bühne vor der riesigen marmorierten Kulissenwand. Mit voluminösem Vibrato schickt König Heinrich VIII. von England seine Ehefrau Anna in den Tod.

Die Gäste sind verzaubert von den Stimmen, die perfekt harmonieren. Und versunken in die Opernwelt, die im Bühnenlicht für sie geschaffen wurde. Ihre Augen sehen nur, was sie sehen sollen. Ihre Ohren hören nur, was sie hören müssen. Was sich hinter der marmorierten Kulissenwand abspielt, entzieht sich ihren Sinnen.

Dort, hinter dem Scheinwerferlicht, agieren in aller Stille schwarz gekleidete Frauen und Männer. So schnell und leise wie möglich lassen sie den künstlichen Schutt- und Ascheberg aus der letzten Szene in einer Luke verschwinden und polieren mit Wischmopps den Boden. Als im Vordergrund der Gesang verklingt, sich die marmorierte Wand hebt und das Scheinwerferlicht auch den hinteren Teil der Bühne wieder beleuchtet, sind die Schattenmenschen verschwunden.

Hunderte von Handgriffen

Rund 650 Leute arbeiten hinter den Kulissen des Zürcher Opernhauses. Das Rampenlicht ist nicht ihre Welt. Lieber zupfen sie am dunklen Bühnenrand angesehenen Sopranistinnen das Kleid zurecht oder pudern weit gereisten Tenören die Nase. Schieben hinter dem Vorhang schwere Wände und bringen Möbel und Requisiten in Position. Oder verstecken sich in der Soufflierbox und flüstern den Sängerinnen und Sängern Text ein.

Die meisten Mitarbeitenden der Oper wirken im Hintergrund. Alle sind sie Meisterinnen und Meister ihres Fachs – kreative Tüftler, erfinderische Schafferinnen und stille Chrampfer. Ohne sie wäre die Oper bloss eine leere, dunkle Bühne. Mit Herzblut, Kopf und Muskelkraft setzen sie die Sängerinnen und Sänger ins rechte Licht, schneidern ihnen edle Roben und bauen eine magische Welt, in welche die Stars das Publikum einen Abend lang entführen können. Für die Zuschauerinnen und Zuschauer bleiben sie unsichtbar. Doch für die Oper sind sie unverzichtbar. Denn sie tragen massgeblich zum Erfolg des Hauses bei.

Und der ist bemerkenswert. Mit 17 Neuproduktionen und über 300 Aufführungen jährlich gehört die Zürcher Oper zu den produktivsten Häusern Europas. 2014 wurde sie an den International Opera Awards zur «Opera Company of the Year» und fünf Jahre später zum «Besten Opernhaus» der internationalen Opernbranche gekürt. Nach Zürich kommt, wer in der Szene Rang und Namen hat.

Wie die Stars des heutigen Abends. Die deutsche Anna-Bolena-Darstellerin Diana Damrau, 50, ihr italienischer Bühnenpartner Luca Pisaroni, 46, sowie der US-Regisseur David Alden, 72, gastieren für gewöhnlich an grossen internationalen Häusern wie der Metropolitan Opera in New York, der Mailänder Scala oder dem Royal Opera House in London. Das kleine und familiäre Zürcher Opernhaus hat für sie aber nicht weniger Reiz. «Das Theaterblut, das uns allen im Leib steckt, ist hier besonders gut spürbar», sagt Diana Damrau. «In diesem kleinen Haus begegnet man sich auf den Fluren und in der Kantine, man kennt sich, vertraut einander und wächst zur Theaterfamilie.»

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